The Battle for the At-Risk Group: The Impact of Covid-19 on Elderly People and People with Disabilities in Digital Germany
People with disabilities and elderly people are not a homogeneous group – whether in how they experience datafication in a wealthy country such as Germany nor in how Covid-19 effects their lives. However, what unites them is the old ambivalent struggle over classifications: Who counts as being at-high-risk? Who receives vaccination? Who has to stay at home until fall?
by Ute Kalender
Wie ist die Situation von Menschen mit Behinderung und älteren Menschen in einem Land wie Deutschland, das im letzten Jahr durch Corona einem enormen Digitalisierungsschub unterlag?
Glauben wir neuen und alten Cyberfeminismen, dann müssten Menschen mit Behinderung und ältere Menschen ganz oben auf der coronabedingten Datafizierungswelle surfen. Für Donna Haraway etwa galten Menschen mit Behinderung als Cyborgs schlechthin – als ideale Subjekte einer technologischen Welt. Sie vermutete, dass wegen ihren intimen Verbindungen mit Prothesen und Technologien “[p]erhaps paraplegics and other severely handicapped people can (and sometimes do) have the most intense experiences of complex hybridization”. Und auch in den aktuellen Texten des computerfreundlichen Xenofeminismus sind Menschen mit Behinderung vielfach anzutreffen. Durch die selbstbestimmte Aneignung von digitalen Technologien weisen sie Diskriminierungen im Namen einer natürlichen Ordnung zurück.
Dass sich der technologische Corona-Alltag komplexer gestaltet, ist schwer zu erraten. Bei wem sich jetzt allerdings ein Unbehagen breit macht, weil sie die Authentizitätskeule fürchtet – gut so. Ich habe nicht vor, mich auf die wirklichen Erfahrungen von Menschen mit Behinderung in einer datafizierten Coronawelt zu beziehen, um die digitalfeministischen Vorstellungen von Menschen mit Behinderung als idealisiert oder ideologisch zu entlarven. Erfahrung ist ja bekanntlich etwas zu Klebriges, als dass wir uns ernsthaft darauf beziehen könnten. Nein ich bleibe beim Synthetischen, bei den Instagram-Videos von Krüppelaktivis_innen zu #ZeroCovid, einer Bewegung, die sich für den solidarischen europaweiten Shutdown einsetzt, bei Eindrücken vom Leben meiner Eltern und bei den Projektionen, die ich als nicht-behinderte Frau auf Menschen mit Behinderung habe, die ich in den Straßen Berlins treffe.
Beginnen wir mit meinen um die 80-jährigen, teils stark gehandicapten, westdeutschen Unterklasse-Eltern. Sie wurden 2020 zwangsdigitalisiert. Ein großes Telekommunikations-Unternehmen stellte von analog auf digital um, kündigte ihnen den preiswerten jahrzehntealten Vertrag und ließ sie einen neuen, teureren abschließen. Nach anfänglichem Ärger kaufte ich meinen Eltern ein Tablet. Mein Vater musste in immer kürzeren Abständen ins Krankenhaus und durfte dort wegen Corona nicht besucht werden. Vielleicht würden Videotelefonate seine Aufenthalte erträglicher machen. Meine Mutter verschickte bald eifrig Nachrichten über Messengerdienste, beanstandete meine Frisur auf Fotos, die sie von mir im Internet fand und verwickelte etliche verdutzte Bekannte in entfernten Städten in Videokonferenzen. Wenn mein Vater meines und das Gesicht meiner Schwester auf dem Tablet sah, freute er sich zwar immer, war den Tränen nahe und küsste begeistert die Oberfläche des Tablets, fand aber keinen Zugang und würde das Gerät im Krankenhaus wohl niemals anschmeißen. Die Schrift zu klein, die Oberfläche zu unruhig, die Schritte in den Onlineraum nicht zu merken. Ganz anders als Freunde von mir in Brasilien. Im gleichen Alter, aber digital kompetenter. Immerhin: Bevor sich wieder ein Krankenhausaufenthalt ankündigte, ergatterten wir für meinen Vater einen frühen Impftermin Ende Februar. Trotz zusammenbrechender Server zur Terminvergabe in Nord Rhein Westphalen, einem Bundesland im Westen von Deutschland gelegen.
Andere Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten müssen vermutlich bis Ende des Sommers auf eine Impfung warten. Der jüngere Student mit Spina Bifida, der nicht im Heim lebt ebenso wie die 55-jährige Frau mit Lungenkrebs, die frisch operiert jetzt isoliert zu Hause sitzt. Die deutsche Corona-Impfverortung schließt sie von einer baldigen Impfung aus. Der Behinderten-Aktivist Raul Krauthausen sieht darin eines der größten Missverständnisse in Deutschland – dass die Risikogruppe ausschließlich aus Hochaltrigen besteht und in Heimen lebt. Es gebe 100-tausende jüngere Menschen mit chronischen Krankheiten. Sie beschäftigen Assistent_innen, haben Kinder, Partner_innen und Freund_innen. All diese Leute fallen seit Beginn der Schutzmaßnahmen durch das Raster, erhalten keine Masken, Schutzkleidungen und Schnelltests. Sie bekommen keine Pflegeboni für ihre Assistent_innen oder pflegende Angehörige und es gibt für diese Menschen keine Impfungen.
Eine Entsolidarisierung mit denen, die in der Todesfalle Heim sitzen oder mit den über 80-Jährigen liegt den Kritiker_innen fern. Dennoch zeigen die Statements: Der Kampf um das zweischneidige Schwert der Risikoklassifikation – des Einschlusses in die Risikogruppe mit hoher Impfpriorität – ist entbrannt. Und die Interventionen erinnern auch daran, dass jedes Klassifizieren eine moralische Agenda beinhaltet. Klassifikationen wertschätzen das Leben der einen und blenden andere Leben aus. Klassifikationen gewähren einer Gruppe Zugang zu Ressourcen und verweigern sie einer anderen.
Die Interventionen werden aber auch von jenen geführt, die Zugang zu digitalen Endgeräten und Infrastrukturen haben und sich gekonnt in den sozialen Medien wie Instagram und Facebook bewegen. Von den privilegierten Behinderten, den Edel-Krüppeln, wie der leider im letzten Jahr verstorbene Behinderten-Aktivist Matthias Vernaldi zu sagen pflegte. Und nicht von jenen die in einem reichen Land wie Deutschland in Zonen der Globalen Süden leben. Die Interventionen zeigen, dass Menschen mit Behinderung und ältere Menschen keine homogene, keine passive, schon gar keine immer leidende Gruppe ist. Dennoch frage ich mich auch, welchen Standpunkt die haben, mit denen ich viel zu selten, meist gar nicht spreche, die mir aber einige Male am Tag begegnen. Betty die Pöbel-Prinzessin vom Kottbusser Tor oder Schrei-Stubi, der in einem Zelt am S-Bahn Ring in Neukölln wohnt. Bei ihnen lässt sich nicht sagen, ob die Behinderung, ihre mentalen Angelegenheiten, im Zuge ihres Lebens auf der Straße entstanden sind, oder ob umgekehrt ihre Behinderungen zu einem Leben auf der Straße geführt haben. Betty und Stubi verfügen weder über ein Handy noch werden sie derzeit angeschrieben und zur Impfung eingeladen. Sie fallen durch das deutsche Datenraster – wollen vielleicht durchfallen, gar nicht erfasst werden. Und vielleicht ist es so wie ein Bekannter mit Behinderung, ein Professor für Rehabilitationswissenschaften, mal in einer unserer nächtelangen Diskussion über barrierefreie Apps sagte: Das Problem heißt nicht Digitalisierung, das Problem heißt Armut.
About the author
Dr. Ute Kalender is a cultural scientist from Berlin. As a qualitative researcher, she works in a research project on intersexuality at Charité University Medicine and in Digitale Akademie Pflege 4.0–a project on the digitalisation of the care sector.
Dr. Ute Kalender ist Kulturwissenschaftlerin und lebt in Berlin. Als qualitative Forscherin arbeitet sie in einem Forschung zu Intersexualität an der Charité Universitätsmedizin. Und in dem BMBF-Projekt Digitale Akademie Pflege 4.0 – einem Forschungsprojekt zur Digitalisierung des Pflegesektors.